Sitzt du auch mal wieder brütend vor der Tastatur und quälst dich mit der passenden Antwort auf eine Email oder die Erledigung eines Auftrages oder gar – wie ich – mit dem Verfassen eines Textes? Es will einfach nicht vorangehen, man klebt an einem Punkt fest, die Gedanken bleiben ungeordnet, der Flow will nicht eintreten. Und dann noch die permanenten kleinen Störungen: Pling: eine neue Email; Pling: ein neue What´s App News; Pling: Es gibt neue Updates. Jetzt aktualisieren? Ok, alles lautlos gestellt, du sitzt bequem, Kaffee ist auch da und du hast genug Infos gesammelt, um loszulegen. Doch es will einfach nicht.
Was kannst Du tun, wenn du gedanklich keinen Schritt weiterkommst?
Gehe einfach!
Es klingt banal und ist doch so unglaublich wirkungsvoll: Einfach mal raus aus der Kammer und sich ziel- und zwecklos die Beine vertreten. Spazieren, flanieren, schlendern oder gehen – egal, wie du es nennst, es ist die natürlichste Art und Weise, um auch deinem Denken wieder Beine zu machen. Es benötigt minimalen Aufwand, keine spezielle Ausrüstung und du bestimmst, wie lange du es ausdehnen willst.
Ich laufe mal eine, mal zwei und auch mal drei Stunden am Tag. Schon während meiner Studienzeit habe ich das gerne gemacht. Statt mit der U-Bahn zur Uni, bin ich zu Fuß den ca. dreiviertelstündigen Weg gegangen – hin- und auch wieder zurück. „Die Zeit hätte ich gern.“, war der übliche Kommentar, den ich damals bekam, wenn ich anderen davon erzählte. Was sie nicht verstanden: Es war für mich oft die produktivste Zeit meines Tages. Auf diesen Wegen sortierte ich meine Gedanken, begann im Kopf der Erledigung meiner Aufgaben oder Arbeiten Struktur zu geben oder wiederholte mir angelesenes Wissen aus dem Vortag.
Jahrelang machte ich mir wenig Gedanken über meine fußläufige Agilität. Dass das ein bisschen sonderlich ist, nahm ich schon wahr. Denn ich war selbst unter Freunden berüchtigt, dass man mit mir besser keinen Stadtbummel machen sollte. Besonders bei Städtetrips musste ich mich oft zügeln als ich bemerkte, dass meine Begleiter:innen gar nie auf den Gedanken kamen, sich eine Stadt komplett über den Tag hinweg zu erlaufen.
Rom, Paris, Barcelona, Lissabon, Athen, Wien, Zürich, Berlin, Hamburg etc. – stundenlang bin ich in diesen Städten umhergewandelt, oft keinem Ziel folgend, sondern einfach von den Strömen der Fußgänger mich mitziehen und leiten lassend oder einer anziehenden fernen Silhouette folgend, schlenderte und flanierte ich durch die Straßen, Gassen, Gärten oder Parks. Meine Traumstadt des Gehens entdeckte ich erst vor kurzem: Venedig. Ja, diese Stadt entfaltet ihren einzigartig legendären Charme erst am Abend, wenn die Tagestouristen allmählich verschwinden, und noch eine überschaubare Schar spazierender Leute durch die unzähligen Gassen ziehen.
Vor kurzem stieß ich dann auf diesen Beitrag von Deborah Grayson Riegel in der Harvard Business Review und begann zunehmend interessiert weiteren Spuren im Netz zu folgen, die auf Menschen hinweisen, die ein ähnliches Glück beim Gehen empfinden wie ich. Und ich wurde mehr als belohnt. Denn ich durfte feststellen, dass ich kein alleiniger Sonderling bin und das, was ich fast mein ganzes Leben lang so schätzte und mir guttut, von einigen geteilt und von immer mehr Menschen gerade entdeckt wird.
Die Wiederentdeckung des Gehens ist eine der wenigen angenehmen Nebenwirkungen der Pandemie. Mehr und mehr Menschen schwärmen über dieses Spazieren, Gehen, Flanieren und finden es ebenfalls enorm bereichernd.
Besonders anregend und interessant war die Entdeckung des Podcast-Projekts „Lob-des-Gehens“ von Nicola Wessinghage, die derzeit schon 9 Folgen mit spannenden Gesprächspartnern aufgenommen hat. Gefunden habe ich sie über diesen Artikel in dem Blogmagazin WOMZ und später dann habe ich noch eine wunderbare Buchempfehlung in diesem Beitrag gefunden: David Le Breton „Lob des Gehens“. Er schreibt faszinierend über die vielen bedenkenswerten Facetten des Gehens und ich fand in diesem Buch ein wunderbares Zitat von Kierkegaard:
„Ich habe mir meine Gedanken angelaufen, und ich kenne kein Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde.“
Und noch mal zurück zu Deborah Grayson Riegel. In ihrem Harvard-Artikel benennt sie 5 Punkte über das Gehen in Zeiten der Pandemie – übersetzt und zusammengefasst von mir:
- Gehen Sie für eine Perspektive. An Tagen, an denen ich eine Perspektive brauche, gehe ich spazieren und schaue dabei in die Sonne, die Bäume oder das Wasser. Diese Ausblicke erinnern mich daran, über die Weite des Universums nachzudenken, die Schönheit der Natur zu schätzen und mir vor Augen zu führen, wie viel Welt es für mich noch zu erforschen gibt.
- Gehen Sie für die Verbindung. Man kann zwar alleine gehen, muss es aber nicht. Und wenn es aus Sicherheits- oder Entfernungsgründen nicht leibhaftig geht, dann einfach per Telefon. Und heutzutage ist das Gehen eine der sichereren Aktivitäten, die uns zur Verfügung stehen.
- Gehen Sie zum Lernen. So sehr ich es auch mag, meinen Kopf frei zu bekommen, so sehr mag ich es auch, ihn mit neuen und nützlichen Informationen zu füllen. Vielleicht gehe ich spazieren, während ich einen Podcast oder ein Hörbuch höre, oder sogar die Aufzeichnung eines Webinars, für das ich mich angemeldet habe, an dem ich aber nicht teilnehmen konnte.
- Gehen Sie aus Dankbarkeit. Als jemand, der sowohl chronische als auch akute Rückenschmerzen hatte, gehe ich oft mit dem Fokus darauf, wie glücklich ich mich fühle, gehen zu können – und die Erleichterung, schmerzfrei zu sein.
- Gehen Sie für die Produktivität. Manchmal vereinbare ich ein Coaching-Gespräch mit einem Kunden, um zu gehen und zu reden. Oder ich vereinbare ein Networking-Gespräch mit einem Kunden, der ebenfalls an einem anderen Ort spaziert. Ich bin auch produktiv, wenn ich gehe, und diktiere manchmal Brainstorming-Ideen oder sogar einen neuen Artikel in das Diktiergerät meines Telefons. Wenn ich nach Hause komme, habe ich etwas, das ich von meiner To-Do-Liste abhaken kann, zusätzlich zum Spaziergang an diesem Tag.
Und abschließend schreibt sie – und dem schließe ich mich an:
„Gehen Sie spazieren, wenn Sie können und wo Sie können. Ihr Körper, Ihr Geist und Ihre Seele werden es Ihnen danken.“
Titelbild: Candid_Shots auf Pixabay